Die Asymmetrie
Aus einer psychologischen Untersuchung aus dem Jahr 1999 (Rikowski & Grammer 1999), in welcher der Grad der Symmetrie eines Gesichtes mit dessen Attraktivität verglichen wurde, geht genau das hervor. Es wurden insbesondere die Frauengesichter als besonders attraktiv eingestuft, deren Gesichter kleine Asymmetrien aufwiesen.
Der sogenannte »Schönheitsfleck« deutet darauf hin und scheint eine besondere Rolle zu spielen. Das amerikanische Topmodel und Schönheitsideal Cindy Crawford (Abb. 3) überlegte beispielsweise am Anfang ihrer Laufbahn, den kleinen Leberfleck über ihrer Oberlippe operativ entfernen zu lassen. Heute ist sie froh über ihr Zögern. Der kleine Makel ist ihr individuelles Markenzeichen geworden. Durch kleine Asymmetrien gewinnen Gesichter nicht nur an Menschlichkeit, sie gewinnen an Qualität. Diese Individualität, auch wenn sie eine Unperfektion ist, wie im Falle von Cindy Crawford, steigert die Attraktivität. Schönheit scheint eben nicht nur Symmetrie zu sein, denn gerade durch die Symmetrie wird die Individualität und Einmaligkeit des einzelnen Bestandteils durch die alles übergreifende Ordnung der Gleichheit unterdrückt. Wahre Schönheit hat Kontakt zur Asymmetrie (Irrationalität). Schönheit scheint weder die absolute Perfektion der Symmetrie noch die völlige Ungleichheit und Asymmetrie einer Erscheinung zu sein. Schönheit ist die augenfällige Symmetrie mit einer Pointierung der Asymmetrie.
Bei genauerer Betrachtung dieses Verhältnisses wird offensichtlich, dass Asymmetrie nicht nur ein Schönheitskriterium ist. Das Prinzip der Ungleichheit spielt wie das Prinzip der Symmetrie eine weitaus fundamentalere Rolle. Asymmetrie scheint ebenfalls ein übergeordnetes Entwicklungsmuster zu sein. So beispielsweise galt lange Zeit innerhalb der Physik die Symmetrie der Elementarteilchen als ein Grundprinzip der Kernforschung. Dieses Standardmodell musste jedoch 1957 mit dem Nachweis asymmetrischer Verfallsprodukte von Kobalt 60 endgültig umgestürzt werden: In diesem Experiment (Wu 1959) beobachtete man den Zerfall von Kobalt zu Nickel. Es entstanden entgegen der Vermutung mehr rechtshändige als linkshändige Elektronen. Im Jahr 1999 wies schließlich ein internationales Wissenschaftlerteam (KTeV Collaboration 1999) am Fermi National Accelerator Laboratory die sogenannte »direkte CP-Verletzung« nach, die schon seit den sechziger Jahren theoretisch vermutet wurde. Beim Zerfall eines Kaons, der Einheit eines Elementarteilchens und seinem Antiteilchen, entstanden erstmals asymmetrische Zerfallsprodukte. Es handelt sich um ein bis heute unerklärtes Phänomen, dass offensichtlich die Grenzen der herkömmlichen Physik tangiert. Bei einer erneuten Erweiterung dieses Modells könnte damit möglicherweise das Rätsel gelöst werden, warum nach dem Urknall mehr Materie als Antimaterie übrig geblieben ist. Dieses enorme Ungleichgewicht von Materie und Antimaterie im Kosmos ist die größte uns bekannte Asymmetrie überhaupt.
Die Bedeutung der Ungleichheit und Asymmetrie findet sich noch in zahlreichen anderen Fachgebieten. Wissenschaftler (Eckert & al. 2003) vom McKnight Brain Institute der University of California wiesen beispielsweise nach, dass die Asymmetrie und ungleiche Größe der Gehirnhälften wesentliche Faktoren für den hohen Intelligenzgrad des Menschen sind. Mittlerweile ist bekannt, dass die als »funktionale Asymmetrie« bezeichnete Gestaltung des menschlichen Gehirns Voraussetzung für die Ausbildung der individuellen Fähigkeiten, Eignungen und Neigungen ist. Schon in einem frühen Stadium während der Embryonalentwicklung wird die ursprüngliche Symmetrie des Embryos durch asymmetrische Genaktivitäten gebrochen. Die unter anderem entstehende anatomische und vor allem funktionelle Ungleichheit der beiden Großhirnhemisphären ist der wesentliche Faktor für menschliche Intelligenz. Eine bilaterale (symmetrische) Kontrolle einzelner Funktionen dagegen führt zu erheblichen Störungen und Behinderungen. So werden beispielsweise Krankheitsbilder wie Legasthenie oder Epilepsie auf Störungen der funktionalen Asymmetrie des Gehirns zurückgeführt (Eckert & al. 2003).
Aus den erwähnten Beispielen wird deutlich, dass Asymmetrie und Ungleichheit keine lebensfeindlichen Ordnungsprinzipien sind. Im Gegenteil, sie sind unverzichtbarer Bestandteil eines Entwicklungsmusters der Evolution. So sind beispielsweise alle biochemisch wirksamen organischen Substanzen chiral. Tatsächlich scheinen sich sogar bei genauer Betrachtung alle vermeintlichen Symmetrien als Asymmetrien zu entpuppen: Alle oben erwähnten Antagonismen, wie hell - dunkel; Materie - Antimaterie usw., lassen sich ebenso als Asymmetrien beschreiben, da sie maximale Gegensätzlichkeiten darstellen (und Ungleichheit ist ja das Kriterium für Asymmetrie). Paradox ist jedoch, dass es gerade dieser polare Charakter ist, der Symmetrie entstehen lässt, denn das Prinzip des Gegenpols erzeugt ja gerade die Symmetrie. Der Schmetterling ist nur dann symmetrisch, wenn jede Zeichnung des einen Flügels sich genauso auf dem anderen Flügel wiederfindet. Pole können nicht für sich definiert werden, sie sind »einander zugemessen« (symmetros).
Während die Symmetrie ein Ideal hinter den tatsächlichen Formen ist, ist die Asymmetrie real. Beide Prinzipien sind voneinander nicht zu trennen. Während in der Antike vor allem die Symmetrie und das Ebenmaß als das Abbild des Guten, Wahren und Schönen galt, so ist die Anerkennung der Asymmetrie als ein grundlegendes Muster der Welt in den letzten Jahrzehnten stetig gestiegen. Beide Prinzipien stellen Gegensätze dar und müssen dennoch, jedes für sich, als fundamentales Muster unserer Welt anerkannt werden. Es stellt sich schließlich jedoch die Frage, welches Prinzip als Grundmuster der Natur betrachtet werden darf. An dieser Stelle eröffnet sich ein Dilemma: Ist es nun die Gleichheit oder die Einmaligkeit, die Symmetrie oder die Asymmetrie, die Ordnung oder das Chaos, welches die Schlüsselrolle bei der Erklärung der Schönheit spielt? Der Begriff des Schönen scheint hier wieder so ungreifbar wie anfangs.
Zur Lösung des Konfliktes trägt ein Jahrtausende altes Proportionsverhältnis bei, das Menschen unzähligen Quellen zufolge schon immer als besonders harmonisch und schön empfanden. Es handelt sich um ein asymmetrisches Verhältnis von Teilen, welches seit vielen Epochen eine bevorzugte Anwendung findet. Seine Umsetzung finden wir in fast allen Kulturen auf der ganzen Welt, vor allem in der Architektur, der Musik, der Malerei und seit dem 19. Jahrhundert erstaunlicherweise auch in den Naturwissenschaften, vorrangig in der Biologie, Medizin und Chaosforschung. Die Rede ist vom goldenen Schnitt. Seine Proportionen wurden schon immer als besonders schön und harmonisch empfunden (Green 1995).