Die Quintessenz
Es handelt sich beim goldenen Schnitt um ein Proportionsverhältnis, welches vom Menschen als schön und harmonisch empfunden wird. Dieses wurde in der Vergangenheit sowohl unbewusst (Steinkeile) als auch bewusst (Parthenon) umgesetzt. Das subjektiv vom Menschen als schön empfundene Verhältnis kommt auch objektiv als durchgängiges Entwicklungsmuster in der Natur vor. Eine Ausdrucksweise dafür ist die Fibonacci-Reihe. Selbst innerhalb der von einer strengen Logik geprägten Mathematik demonstriert die Zahl Phi eine außergewöhnliche Stellung. Es fällt schwer, aus diesen Übereinstimmungen nicht die Schlussfolgerung zu ziehen, dass wir es hier mit einer der Urformen und -prinzipien natürlicher Prozesse zu tun haben.
Der Goldene Schnitt und sein In-Erscheinung-Treten sind stets mit sich scheinbar widersprechenden Gegensätzen verbunden, wie sie größer nicht sein könnten:
Dazu zählen der Widerspruch von »Rationalität« und »Irrationalität«, die im Begriff des Schönen aufeinandertreffen. Wie uns der goldene Schnitt gezeigt hat, ist Schönheit nicht nur Ausdruck einer rationalen Ordnung, sondern ebenso zugleich Ausdruck einer Irrationalität. Das demonstriert uns die Tatsache, dass die irrationalste Zahl, die der Mensch kennt (Phi), uns im Gewand der Schönheit begegnet. Der Mensch glaubt mitunter durch seine Fähigkeit zur Rationalität, das Irrationale und ihn vermeintlich Bedrohende aus der Welt schaffen zu können. In Wirklichkeit entspringt auch dem Irrationalen Harmonie und Schönheit.
Jene für den Menschen maximal erscheinenden Widersprüche verbildlicht der goldene Schnitt in einem weiteren Gegensatz, nämlich im mathematischen Modell von »Symmetrie« und »Asymmetrie«. Während die Symmetrie offenkundig eine große Nähe zum sogenannten Schönen hat, erweist sich auch die Asymmetrie des goldenen Schnitts als eine Darstellungsseite des Schönen.
Hinzu kommt schließlich der Gegensatz von »Subjektivismus« und »Objektivismus«, welche in der Proportio divina eine Gemeinsamkeit finden: Das subjektive Schönheitsempfinden des Menschen, welches in der Kunst und in der Architektonik klassischer Bauten zum Ausdruck kommt, bringt genauso die Proportionen des goldenen Schnittes zum Vorschein, wie das objektive Entwicklungsmuster der Natur in Form der Fibonacci-Reihe.
Wie die Beispiele zeigen, nimmt der goldene Schnitt eine zwischen zahlreichen Dualismen vermittelnde Position ein. Über diesen die Gegensätze verbindenden Charakter des goldenen Schnittes können wir uns dem Geheimnis der Schönheit folgendermaßen annähern:
Die Symbiose der Gegensätze, wie sie der goldene Schnitt verwirklicht, erzeugt den Ausdruck vollendeter Harmonie und Schönheit. Der Grund ist eine allem zugrundeliegende Ganzheit. Diese erhebt sich über den maximalen Widerspruch der verschiedenartigen Gegensätze zur Komplementarität. Der Bezug jedes einzelnen Teiles (Minor und Major) zum Ganzen schafft im Betrachter ein Bild der Einheit und Vollkommenheit. Schönheit ist demnach im Sinne des goldenen Schnittes das Erkennen des unauflöslichen Zusammenhangs vom Ganzen und seiner Teile. Schönheit ist ein Ausdruck des Ganzen durch die Integration zweier scheinbar unvereinbarer Gegensätze. Da sind wir wieder bei Pythagoras: »Das Gleichnis dessen, der die höchste Vernunft besitzt, ist und kann nur die Fähigkeit sein, die Beziehungen zu erkennen, die auch Dinge einen, die scheinbar keinerlei Verbindungen zueinander haben.« (Pythagoras)
Der verbindende Charakter des goldenen Schnittes ist ein Entwicklungsideal und Muster der Natur, dass in allen ihren Erscheinungen zum Vorschein kommt. Im Sinne des Additions- und Bezugsgesetzes, welches unter anderem in der Fibonacci-Reihe zum Ausdruck kommt, geht kein Element verloren, sondern ist stets Teil eines Ganzen. Damit stößt der goldene Schnitt das Tor zu einer übergeordneten Problematik auf, die alle Lebensbereiche umfasst. Es stellt sich doch die Frage nach dem Verhältnis des Teiles zum Ganzen oder nach der Vereinbarung von Gegensätzen in allen Bereichen des Lebens. Im Sinne des goldenen Schnittes könnte es zu einer Art Handlungsmaxime werden, das Andersartige, den Gegensatz nicht aus der Welt zu schaffen, sondern unter einem übergeordneten Blickwinkel, in Bezug zum Ganzen, mit einzubeziehen. In diesem Zusammenhang wird auch aus heutiger Sicht neu verständlich, weshalb für die alten Griechen alles Existierende, eben der gesamte Kosmos dem »Schönen« angehörte.
Der goldene Schnitt lehrt uns, dass das Irrationale und das Nichtrechenbare Bestandteil der Natur sind, nicht jedoch im Sinne des Unharmonischen und Hässlichen, sondern als Teil des Schönen und Wunderbaren. Wir können die Prinzipien der Natur erfassen und sogar das Schöne als »eine Manifestation geheimer Naturgesetze« verstehen. Als Teil des Ganzen können wir aber nicht die Natur der Ganzheit entzaubern, denn » ... sie schafft ewig neue Gestalten; was da ist, war noch nie; was war, kommt nicht wieder – alles ist neu und doch immer das Alte.« Auch dies stammt aus den Werken desselben Dichterfürsten (Goethes Werke 1893).